Kinderlosigkeit
Stigma: Kinderlosigkeit
Gastartikel von Annette Förg
„Wenn eine Frau keine Kinder hat, wollte sie eben keine.“ Dieser Irrglaube im Bezug zu Kinderlosigkeit ist leider weit verbreitet.
Kein Wunder, dass eine große Mehrheit so denkt. Schließlich wird bereits bei der sexuellen Aufklärung der Fokus auf das Thema Verhütung gelegt. Alle fürchten, dass bei jedem unverhüteten Geschlechtsverkehr ein Kind gezeugt wird. Es kommt durchaus vor, doch bei Weitem nicht immer. Viele Mütter und Väter wissen das aus eigener Erfahrung, wenn ihr Kinderwunsch nicht sofort in Erfüllung ging. Und die Zahlen des Bundesministeriums bmfsfj von 2020 belegen es: „Die sogenannte endgültige Kinderlosenquote (Anteil der kinderlosen Frauen an allen Frauen zwischen 45 und 49 Jahren) stieg von 2008 und 2018 von 17 Prozent auf 21 Prozent“.
Schmerz und Drama des unerfüllten Kinderwunsches
Diese werden verschlimmert durch gesellschaftliche Stigmatisierungen: Karrieregeilheit, Egoismus, Kinderhasserin, Familienfeindlichkeit, Rollenverweigerung. Unvorstellbar, dass einem Mann diese Attribute zugeordnet werden würden.
Auch im 21. Jahrhundert ist Mutterschaft der Maßstab, an dem Frauen gemessen werden. Es werden diejenigen stigmatisiert, die kinderlos geblieben sind.
Jede kinderlose Frau kennt viele solcher Situationen! Privat wie beruflich, offen oder durch Schweigen. Spätestens wenn sie die Frage verneint „Hast du Kinder?“
Der Smalltalk Killer
Stell dir folgende Szene vor: Du plauderst mit ein paar Leuten, die du gerade erst kennengelernt hast. Sei es auf einem Fest oder im beruflichen Zusammenhang. Im lockeren Gespräch tauscht man Alltäglichkeiten aus, sucht nach verbindenden Gemeinsamkeiten. Spätestens nach drei Minuten landen Frauen beim Thema Familie und Erziehung der Kinder. Alle reden mit, jede kann etwas beitragen und erzählt von eigenen Erfahrungen. Da wird gefragt: „Wie viele Kinder hast du?“ oder „Wie alt sind denn deine Kinder?“
Ich habe keine Kinder
Dann wird die Verbindung unterbrochen durch die Antwort einer Frau: „Ich habe keine Kinder“.
Tausendmal gehört und tausendmal folgte Schweigen. Viele Menschen wissen dann nicht, was sie sagen sollen. Denn zu jeder Kinderlosigkeit gehört eine emotionale Geschichte. Und auf Gefühle weiß man in unsere Kultur oft nur eine Antwort: Betretenes Schweigen.
Mit der Frage nach den Kindern ist automatisch die Erwartung verbunden, ein lockeres Gespräch über Freud und Leid von Elternschaft einzuleiten. Dies, ohne über sich selbst sprechen zu müssen. Anders für die kinderlose Frau. Sofort breitet sich eine unvorhergesehene Tiefe von Intimität und großen Gefühlen aus. Wer will das schon? Wer weiß, wie man damit umgeht? In der Öffentlichkeit, bei einem lockeren Zusammensein, beim Smalltalk?
In der Regel übernimmt die kinderlose Frau die Verantwortung für die Fortsetzung des Gesprächs
Sie erzählt sofort von anderen Kindern in ihrem Leben – aus der Not heraus und um wenigstens in zweiter Reihe dazuzugehören. So ging es mir früher auch, bis ich angefangen habe, meine eigenen Themen und Interessen anzusprechen.
Diese Empfehlung gebe ich allen Frauen, die in mein Coaching kommen: Bereite dich vor! Denn die Frage kommt immer wieder. Auch später, wenn die Leute wissen wollen, ob du schon Oma bist.
Smalltalk
Im Smalltalk geht es in erster Linie darum, Gemeinsamkeiten herauszufinden, über die man miteinander reden kann. Hat man diese gefunden, ist der Abend, das Geschäftsessen oder die Feier gerettet. Vermeintlich. Auf der inneren Bühne der kinderlosen Frau folgt jedoch der nächste Akt des Dramas. Die Wellen von Gefühlen brechen durch.
Beruflich erfolgreiche Frauen
Selbst beruflich erfolgreiche Frauen stürzen in Gefühle von Unzulänglichkeit, Wertlosigkeit und Scham. Kompetenz, Zugehörigkeit, Selbstsicherheit sind plötzlich wie weggeblasen. Das Gefühl von Ausgeschlossensein ist Thema im Coaching mit jeder Frau, die gern Mutter geworden wäre.
Nicht dazu zu gehören löst Stress und Sprachlosigkeit aus. Eine sehr erfolgreiche Frau sagte mir einmal, dass sie sich in manchen Situationen so fühle, als sei ihre Lebensenergie abgesaugt worden.
Hilflosigkeit des Umfeldes
Die Trauer über den unerfüllten Kinderwunsch geht Hand in Hand mit der Hilflosigkeit der Mitmenschen. Allzu oft bewirken gut gemeint Kommentare und Ratschläge noch mehr Schmerz, Traurigkeit, Scham oder Wut.
Solche peinlichen Smalltalks kennen alle. Je privater der Rahmen, umso eher wird weiter gefragt, kommentiert oder ungefragt gut gemeinte Ratschläge geben.
„Adoptiert doch ein Kind“.
„Kinder sind so anstrengend, sei froh…“.
„Wenn du dich entspannst, wird es schon klappen.“
Den Gefühlen standhalten
Kinderlosigkeit bedeutet, den Lebensplan neu zu gestalten. Wenn der Traum vom eigenen Kind geplatzt ist, stürzen sich viele Frauen in berufliches Engagement und einige machen auch Karriere. Die Konfrontation mit der Kinderlosigkeit wirkt auf vielen Ebenen, wie der Stigmatisierung. Oder sie zeigt sich in vermehrter und unausgesprochener Erwartung an höhere zeitliche Flexibilität und die Übernahme von Zusatzaufgaben. Sie hat doch „daheim keine Verpflichtungen“.
Unzählige Situationen bringen kinderlose Frauen dazu, über ihre Kräfte zu gehen. Sie entlasten Kolleginnen, unterstützen Mütter. Eigene Bedürfnisse werden hinten angestellt.
Der Abschied vom Kinderwunsch ist eine schwere Aufgabe. Er bedeutet, einen Weg zu finden, den Lebensplan neu zu gestalten. Zu den wichtigsten Schritten gehört es, die mit der Kinderlosigkeit verbundenen Gefühle zuzulassen. Sie anzunehmen und ihnen einen würdigen Platz zu geben. So wirst du deine Lebenssituation nicht länger als Leere oder Makel empfinden.
Kinderlosigkeit ist kein Makel
Drei Tipps für dich, wenn du gerade Mutter/Vater geworden bist:
Halte es für möglich, dass dein Gegenüber unfreiwillig kinderlos ist und einen schmerzvollen Weg hinter und vermutlich noch vor sich hat:
Zeige gern dein Interesse, Mitgefühl und deine Gesprächsbereitschaft. Vermeide jedoch Tipps, Bewertungen oder Kommentare, die verletzen können.
> Stelle deine Fragen ehrlich und behutsam, wenn du ernsthaft daran interessiert bist, wie es um die Familienplanung steht.
> Übe dich in Achtsamkeit und Respekt, wenn du von deinen Nachkommen erzählst. Spätestens wenn du merkst, dass die Aufmerksamkeit nachlässt, darfst du aktiv das Gesprächsthema wechseln.
Drei Tipps für dich, wenn du gerne Mutter/Vater geworden wärst
Du weißt, die Kinder-Frage wird dir immer wieder begegnen. Deshalb bereite dich vor und schaffe dir auf diese Weise (wieder) festen Boden unter den Füßen.
> Respektiere deine Grenzen und Gefühle. Bleibe nicht allein damit. Sprich mit deinem Partner, einer Freundin oder hole dir auch professionelle Unterstützung. Der Abschied vom Kinderwunsch hat viele Facetten. Es ist ein holpriger Weg, der mit vielen Schritten gelingt.
Gleichzeitig darfst du trainieren, wem du was du zu deiner Kinderlosigkeit sagen möchtest. Vielleicht antwortest du schlicht: „Ich habe keine Kinder“. Oder: „Das ist ein großes Thema, darüber möchte ich nicht sprechen“. Vielleicht möchtest du aber auch mehr erzählen. Finde mit der Zeit Antworten, die zu dir passen und mit denen du dich wohl fühlst.
> Bereite dich vor, indem du eigene Themen findest, für die du brennst und über die du dich mit anderen austauschen möchtest. Auch im beruflichen Zusammenhang. Ein Hobby, ein Buch oder den Film, den du zuletzt gesehen hast. Vielleicht interessieren dich neue Radwege oder Urlaubsziele. Denke daran: Wer sich nicht für Tischtennis interessierst, wird auch versuchen, andere Inhalte einzubringen. Das ist auch beim Thema Windeln oder Pubertät erlaubt.
Übrigens: Manche Frauen gesellen sich deshalb gern zu den Männern. Bei ihnen sind Kinder-Themen eher die Ausnahme.
> Verändere deine Blickrichtung, damit es dir leichter gelingt, aus der Deckung zu kommen. Werde dir bewusst, was du hast und was du kannst. Das gibt dir (wieder) Boden unter die Füße und du erkennst: Ich bin mehr als eine Frau ohne Kind!
Kinderlosigkeit ist kein Makel!
Die Autorin
Annette Förg unterstützt Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch dabei, einen neuen Weg zu finden. Unter diesen anderen Umständen makellos zu leben und ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Trotz Trauer, Schmerz und allen anderen Gefühlen.
Sie begleitet im Coaching überwiegend für weibliche Führungskräfte und Privatpersonen bei der Krisenbewältigung. Und sie weiß aus eigener Erfahrung: Kinderlosigkeit ist kein Makel! Doch der Weg dahin beschwerlich.
Mit ihrer Arbeit möchte sie zwischen den Ländern der Menschen mit und ohne Kinder eine Brücke bauen, die von Säulen der Achtsamkeit und Wertschätzung getragen wird.
Wenn du mehr Informationen möchtest, schau hier auf Annettes Seite!
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